Anfang Mai habe ich über den gesellschaftlichen Einfluss auf meine sexuelle Identität gebloggt.
Meine Homosexualität ist von einem eher belanglosem Teil meinerselbst zum Kern meiner Identität geworden. Ich werde darauf reduziert, ich werde deswegen diskriminiert (auch vom Staat) und angefeindet.
schrieb ich unter dem Titel Ich wurde schwul gemacht. Innerhalb weniger Tage wurde dieser Beitrag fast 900 mal aufgerufen, und auch jetzt wird er fast täglich einige Male gelesen. Ich war lange wegen dieser unglaublichen und nicht erwarteten Resonanz sprachlos und habe mich unglaublich über das massive positive Feedback gefreut. An dieser Stelle möchte ich mich dafür bedanken.
Auch hier kann ich wiederum den Fokus nur auf das Schwulsein lenken, weil es meine gewählte Selbstdefinition ist. Mein Outing dazu, genauer gesagt, die Geschichte zu meinem Outing, erzeugte ein ungeheuerliches Interesse. Auch generell hat diese Thematik eine gravierende Bedeutung in der schwulen Kultur, das zeigen so viele Bücher und Filme, die sich genau darum drehen. Unsere Sexualität wird durch die Gesellschaft zum elementaren Bestandteil unserer Identität gemacht.
Ich habe mir lange Zeit gelassen, mich dazu zu äußern. Ich musste mir viele Gedanken gemacht. Denn zeigt dies nicht, welche Verantwortung wir haben? Resultiert nicht eigentlich die Notwendigkeit daraus, dass wir aufzeigen, wie alltäglich und gewöhnlich Homosexualität ist und wie sehr sie zur Normalität gehört?
Ende Juni 2013 sorgte ich – zum Teil zurecht – mit einer provokanten These für viel Unmut in den sozialen Netzwerken. Jetzt möchte ich diese These wieder als Anlass für einen Diskussionsanstoß nutzen. Es soll diskutiert werden, welche Verantwortung wir als Schwule tragen. Dabei belasse ich es bewusst bei der provokanten These:
Leute, die ihre Homosexualität verstecken, sind mitschuldig an Homophobie und Selbstmorden, denn sie leben nicht vor, wie normal es ist.
Vorweg aber eine Klarstellung: Die Verantwortung für Selbstmorde von nicht-heterosexuellen Jugendlichen, der Diskriminierung und Anfeindungen tragen die Menschen, die homophobe Äußerungen tätigen oder sich homophob verhalten! Die nachfolgende Verwendung von Verantwortung bezieht sich deswegen auf unsere Verantwortung als Schwule für die commuity, für andere nicht-heterosexuelle Menschen! Ich möchte über die „positive Verantwortung“ streiten, denn die Täter*innen der „negativen Verantwortung“ sind klar und nicht wegzudiskutieren.
Outing im ursprünglichem Sinne
Der Begriff des Outings kam in den 1980er in den USA auf und wurde in den 1990er als Kampfbegriff in Deutschland übernommen. Im ursprünglichem Sinne bezeichnet das Outing keinen bewussten Prozess der betroffenen Person, sondern ein fremdbestimmtes Zwangsouting, vor allem von Personen des öffentlichen Lebens. Diese Praxis entstand im Zuge der AIDS-Krise und des Act-Up-Movements (AIDS Coalition to Unleash Power). Act-Up trat aktiv gegen die Stigmatisierung von Menschen mit HIV bzw. AIDS ein, von der besonders die schwule community betroffen gewesen ist. Wegen dieser Konzentrierung von HIV-Infizierten bei homosexuelle Männern, wurde HIV auch als die „schwulen Krankheit“ bezeichnet, auf Grund dessen sich politisch eine anti-schwulen Front heraus bildete.
In Deutschland outete 1991 Rosa von Praunheim Hape Kerkeling und Alfred Biolek in der RTL-Fernsehtalkshow „Der heißer Stuhl“, mit dem Ziel Aufmerksamkeit auf das Thema AIDS zu lenken, und Schwule darüber hinaus aus dem Stigma des HIV herauszuholen. In einem Interview verteidigte von Praunheim 2009 sein Handeln:
Das Outing war eine dringend notwendige politische Aktion im Angesicht des Todes von vielen Freunden. Ein verzweifelter Aufschrei in der Aids-Krise. […] Bekennt euch zu eurem Schwulsein! Als Schwule hatten sie eine besondere Verantwortung, weil es in unserer Community die meisten HIV-Positiven gab. […] Stünden sie [Hape Kerkeling und Alfred Biolek, A.d.A.] selbstbewusst zu ihrer Sexualität, steigerte das ihre Popularität. Und die Gesellschaft sähe Homosexuelle mit anderen Augen und verfolgte das Thema Aids mit größerer Aufmerksamkeit.
Das Outing oder genauer gesagt das Zwangsouting entstand in einer Zeit der Hilflosigkeit und Ohnmacht. Endlich sollte die tödliche Krankheit gesellschaftlich und politisch beachtet werden. Endlich sollte das Bild des Schwulen von der Krankheit losgelöst werden. Dabei wurde das Outing ausdrücklich nicht als Verleumdung verstanden, sondern als offensiver emanzipatorischer Schlag. Es sollten prominente role model geschaffen werden, um jugendliche Homosexuelle zu unterstützen, damit sie ein Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein entwickeln könnten.
Mit den öffentlich durchgeführten Outings von Rosa von Praunheim wurde in Deutschland ein Diskurs angestoßen, der nachweislich das gesellschaftliche Bild von Schwulen positiv besetzt hat und die Akzeptanz von Homosexualität stärkte.
Fahrlässiger Egoismus?
Trotz aller Fortschritte, die in den letzten Jahrzehnten erreicht wurden, sind hate crimes, Diskriminierung und Ausgrenzung gegenüber nicht-heterosexuelle Menschen noch alltäglich. Erhöhter Stress, Druck und Angst sind die Folgen, die unter anderem dazu führen, dass nicht-heterosexuelle Jugendliche drei- bis fünfmal häufiger Selbstmord begehen.
Einsamkeit, fehlender Lebenssinn und Schmerz sind starke Gefühle, die eine solche Verzweiflung hervorrufen müssen, dass die einzige Erlösung im Selbstmord gesehen wird. Natürlich sind alle Todesfälle tragisch. Ein Selbstmord ist aber eine Katastrophe. Ich frage mich in welch einer Gesellschaft leben wir denn bitte, dass es dazu kommen kann?
Anfangs sprach ich von Verantwortung. Die Schuld tragen selbstverständlich die Menschen, die ein solches gesellschaftliches Klima tolerieren oder es gar befeuern. Aber haben wir nicht alle, nicht nur für uns, sondern auch gegenüber anderen eine Verantwortung? Eine gestalterische und keine destruktive Verantwortung. Müssen wir Homosexualität nicht alltäglich machen und als Vorbilder voran gehen? Müssen wir nicht zeigen, dass es möglich ist?
Ja, diese Verantwortung haben wir. Natürlich sind Outings nicht einfach. Sich und Anderen einzugestehen nicht normal zu sein, ist niemals einfach. Denn machen wir uns doch nichts vor, was anderes bedeutet es nicht, sonst wäre es nicht nötig. Natürlich führt es zu Veränderungen. Natürlich kann es zu Ablehnung führen. Natürlich können daraus Nachteile entstehen. Natürlich kann daraus eine Bedrohung resultieren. Natürlich kann es ein schwerer Weg sein.
Aber reproduziert die Selbstverleugnung nicht das System? Wird nicht mit der Selbstverleugnung eine Gesellschaft geschaffen, die keinen Deut besser ist, als die Gesellschaft, in der wir aufgewachsen sind? Eine Gesellschaft, die Jugendliche in den Selbstmord treibt. Das sie so verzweifeln lässt, dass sie bereit sind ihr Leben zu nehmen.
Ich nenne das puren und fahrlässigen Egoismus! Nur wegen eines vermeintlich bequemeren Lebens, wegen Angst vor potentiellen Nachteilen, wegen Sicherung von Aufstieg und Luxus? Ist es, wenn wir ehrlich sind, nicht einfach nur Angst?
Einer meiner Ex-Freund hatten eben diese Angst auch sehr tief verinnerlicht. Die große Angst auf Ablehnung zu stoßen. Einmal outete er sich bei weiteren Arbeitskolleg*innen. Die Reaktion? Ein Lachen und ein Achselzucken, und weiter ging es im Gespräch. Das Gesicht meines Ex-Freundes war großartig, es spiegelte nur vollkommene Fassungslosigkeit wieder. Dies hatte er nicht erwartet, weil er sich über die Jahre selbst in die Angst rein gesteigert hatte.
Anstatt mit den drei einfachen Wort „Ich bin schwul!“ ein Statement zu setzen und seinen ganz persönlichen Einfluss auszuüben. Die drei Worte, die effektiver sind, als alles Geld der Welt. Drei Worte, die einen selbst bewegen, aber auch die Menschen bewegen, die einem nahe sind und die einen lieben.
Ein Outing ist niemals leicht! Ja! Aber haben wir nicht die Verantwortung und gemeinsam die Kraft, zu zeigen, dass sie nicht alleine sind? Zu zeigen, dass es besser wird? Zu zeigen, dass sie ihre Potentiale nur voll entfalten können, wenn sie sich nicht verstecken? Zu zeigen, dass es was völlig normales und alltägliches ist? Doch diese Verantwortung haben wir! Denn nur so können wir unschuldige nicht-heterosexuelle Jugendliche davor schützen, sich einsam zu fühlen, zu verzweifeln. Jede Person, die sich versteckt, ist eine Person weniger, die als gutes Beispiel voran geht und jungen, homosexuelle Menschen zeigt, dass es völlig in Ordnung ist, dass sie schwul sind. Und deswegen sind wir nicht nur verantwortlich uns zu outen, sondern deswegen ist es unsere Pflicht uns zu outen!
Ihr seid nicht alleine!
All ihr im Schrank lebenden, ihr seid nicht alleine! Es ist keine Schande Angst zu haben, denn es ist immer noch ein gravierender Schritt. Angst ist etwas vollkommen menschliches. Aber wir müssen uns dieser Angst stellen. Es gibt uns, die wir öffentlich schwul leben. Unsere Aufgabe und Verantwortung als geoutete Schwule ist es, für euch da zu sein und euch zu unterstützen. Es gibt wunderbare Programme wie SchLAu und ES WIRD BESSER, die aufklären und zeigen, dass ihr nicht alleine seid und es besser wird.
Wir sind als Schwule, als Nicht-Heterosexuelle für einander verantwortlich.
„All ihr homophoben Vollidioten, all ihr dummen Hater
All ihr Forums-Vollschreibeer, all ihr Schreibtischtäter
All ihr miesen Kleingeister mit Wachstumsschmerzen
All ihr Bibel-Zitierer mit euer’m Hass im Herzen
All ihr Funktionäre mit dem gemeinsamen Nenner
All ihr harten Herdentiere, all ihr echten Männer
Kommt zusammen und bildet eine Front
Und dann seht zu was kommt“ – Marcus Wiebusch